Der Waldgeist in der Flasche

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    Der weiche, feuchte Boden knirscht mit jedem Schritt verschwörerisch unter meinen Füßen. Eine leichte Brise trägt den archaischen, holzigen Duft des Waldes zur mir, den die milden Spätherbsttage zu berauschender Intensität verdichteten. Kindheitserinnerungen kommen hoch, und ein Hauch von Melancholie legt sich auf mein Gemüt. Ein Waldspaziergang im Herbst ist eine Wohltat für die Sinne – jedes Geräusch, die überwältigende Farbenpracht, die vielen Gerüche, rufen das vertraute, geborgene Gefühl lange vergangener Tage wach.

    Nebel und Wildgänse 'Der Waldgeist in der Flasche' 700x467

    Tage, in denen man in der dunkler werdenden Jahreszeit im Familienkreis zusammensaß, eng am Ofen zusammenrückte und sich Geschichten erzählte. Als jede Nebelschwade, die am Morgen über den Wiesen hing, die Phantasie beflügelte und in eine Märchenwelt voller Zwerge, Feen und Waldgeister hineinkatapultierte.

    Ich konnte damals die mystische Nähe zur Anderswelt spüren, die unsere Ahnen zu Zauberritualen und festlichen Gelagen inspirierte. Ihre tiefe Verbundenheit mit der Natur klingt bis heute in unserer Seele nach.

    Diese geheimnisvolle Anmut des Waldes und das Rauschen der letzten bunten Blätter in den Wipfeln der Bäume wecken stets einen merkwürdigen Tatendrang in mir. Kennst Du das auch? Diese besondere Atmosphäre belebt die Kreativität. Plötzlich erinnere ich mich an ein Buch, das ich im letzten Jahr las und das sich als sprudelnde Quelle innovativer, vielleicht aber eher wiederentdeckter, lang verschütt‘ gelegener Ideen erweisen sollte.

    (Bild und Link Amazon)

    Leider ist es nur in englischer Sprache erhältlich. Es enthält die geheime Anleitung dazu, den Geist des Waldes einzufangen und als sinnliches Aroma in die Flasche zu sperren. Dabei bedient man sich der Methoden und Zutaten, die auch bereits die Feste unserer frühen Vorfahren versüßten.

    Es geht um das Herstellen von wilden Bieren, Weinen und Sodas. „Wild“ heißt, dass den „frei lebenden“ Hefen das Feld im Fermentationsprozess überlassen wird – daher wird dieser Vorgang auch ‚Wilde Fermentation‘ genannt. Hefen sind einzellige Organismen, die dem Reich der Pilze zugeordnet werden. Sie sind in der Natur allgegenwärtig, auf jedem Blatt, jedem Stück Holz, im Boden von Wald und Wiese – überall sind sie zu finden. Und wie mit den kommerziell genutzten Bierhefen können mit ihrer Hilfe Getränke mit einem Alkoholgehalt von gut 5 %, oder mehr, hergestellt werden.

    Für ein wildes Bier braucht es im Grunde nicht viel:

    • ein glukosehaltiges Süßungsmittel
    • Bitterstoffe
    • Hefequelle
    • Säurelieferant
    • Wasser

    Was zunächst einmal ziemlich unspektakulär klingt, eröffnet eine unglaubliche Bandbreite an Möglichkeiten und lädt zum bunten Experimentieren ein. Denn Quellen für Hefen, vielfältige Aromen und auch Bitterstoffe finden wir, wenn wir mit offenen Augen durch die Natur laufen, zu Hauf.

    Auch im Spätherbst wächst da noch so einiges am Wegesrand, das auf Verwendung wartet.

    Da wäre zum Beispiel der Beifuß, der seinen Namen möglicherweise dem Umstand verdankt, dass er uns gern beim Streifzug durch die Natur observiert, da er mit Vorliebe Pfade im Wald und an Äckern säumt. Er ist ein ausgezeichneter Bitterstoffspender, wie auch sein naher Verwandter, der Wermut. Die meisten Bitterstoffe bringen neben der geschmacklichen zugleich eine Qualität in das Getränk, die wir uns nach besonders fettem Essen zunutze machen können. Nämlich unterstützen sie wirksam die Fettverdauung, indem sie die Magen- und Gallensaftproduktion anregen. Nicht umsonst wird die Weihnachtsgans traditionell mit reichlich Beifuß gewürzt.

    Wie der Volksmund schon seit Langem weiß: „Was bitter im Mund ist dem Magen gesund“!

    Bedauerlicherweise sind die Bitterstoffe aus den heute kommerziell genutzten Obst- und Gemüsesorten weitgehend herausgezüchtet worden, sodass auch ein Teil deren gesundheitlichen Nutzens verloren ging. Auch sonst sind sie, verglichen mit den ursprünglichen Sorten, nicht sehr aromatisch und arm an Mineralien und Phyto-Chemikalien. Doch das Thema „moderne Landwirtschaft“ mache ich hier lieber erst gar nicht auf…

    Die Natur jedenfalls beschenkt uns äußerst großzügig mit alldem, was die Lebensmittel im Supermarkt vermissen lassen.

    Hier ein paar weitere Vorschläge für bitterstoffhaltige Pflanzen, denen man zum Teil auch jetzt noch begegnet:

    Kratzdistel 'Der Waldgeist in der Flasche' 650x642
    • Löwenzahn
    • Schafgarbe
    • wilder Rucola
    • Gundermann
    • echter Lavendel
    • Baldrian (Doch Vorsicht bei Doldenblütlern – sie sehen sich zum Teil zum Verwechseln ähnlich, und zu ihnen zählen einige der giftigsten heimischen Pflanzen! Sammelt sie nur, wenn Ihr wirklich wisst, was Ihr tut! Alternativ kann man das gewünschte Kraut auch in der Apotheke kaufen.) Obwohl der Baldrian – ich weiß – eigentlich kein echter Doldenblütler ist…
    • Wegwarte (die Wildform des Chicorée)
    • Große Klette (Arctium lappa)
    • Johanniskraut (Hypericum perforatum)
    • Mariendistel (auch die häufiger zu findende Kratzdistel kann verwendet werden)

    Natürlich kann auch mit dem Gewürzregal herumexperimentiert werden. Denkbar wäre beispielsweise der Einsatz von Lorbeer oder Kurkuma. Gewürze mit hohem Gehalt an ätherischen Ölen, wie Pfefferminze oder Sternanis, sollten sparsam verwendet werden, da ihre antimikrobielle Wirkung auch den Hefen nicht guttut.

    Als Hefequelle kann, da sich Hefen eben überall tummeln, im Grunde alles gebraucht werden, was im Wald so an organischem Material herumliegt. Selbst buntes, herabgefallenes Laub ist hier dienlich, und bringt darüber hinaus wundervolle Farbnuancen in das Gebräu.

    Laub als Hefequelle 'Der Waldgeist in der Flasche'

    Da Hefen jedoch Glukose verstoffwechseln, diese also ihre Nahrungsgrundlage bildet, finden sich besonders viele auf süßem Obst oder auf Blüten, weshalb die Suche nach ihnen im Frühling und Sommer weit erfolgreicher ausfällt. Doch werden die richtigen Bedingungen geschaffen, vermehren sich auch die wenigen, die es bis in den Winter hinein auf Kräutern und Bäumen aushielten, bereitwillig zu effektiven Kulturen, mit denen sich überraschende Ergebnisse erzielen lassen. Hier braucht es aber schon ein wenig Glück!

    Wer auf Nummer sicher gehen möchte, kann einfach einige Früchte (selbstverständlich unbehandelt und aus biologischem Anbau – anderenfalls werden darauf keine Hefen mehr zu finden sein…) oder Blüten dazutun, oder aber selbst einen Starter herstellen.

    Ein Starter ist eine Hefekultur, die immer wieder „gefüttert“ wird und somit nach und nach immer stabiler wird. Stabil ist die Kultur, wenn die Hefen sich bei einem für sie optimalen Milieu bereits außerordentlich stark vermehrt haben, und somit andere Mikroorganismen keine Chance mehr haben, das Gemisch zu verderben. Mit der richtigen Pflege kann sie über Jahre hinweg am Leben gehalten werden, wobei sie immer robuster wird. Das heißt nicht, dass man nun ewig warten muss, bis man loslegen kann. Auch ein noch junger Starter erfüllt seinen Zweck.

    Als Anregung hier das Rezept für einen Ingwerstarter, der sich sehr einfach herstellen lässt und wirklich immer gelingt – auch wenn er vielleicht nicht unbedingt ins Thema „Wald“ hineinpasst.

    (Bei Experimenten mit ausgefalleneren Zutaten (vielleicht Falllaub, unreife Zapfen oder sogar Zweige und Rinde) zur Herstellung eines Starters solltest Du Dich vorerst auf Misserfolge einstellen. Zumindest bei mir gehen die ersten Versuche immer schief. Irgendwann aber klappt’s dann auf einmal. Prinzipiell kannst Du mit beinahe allem einen Starter kreieren und ich kann Dir nur empfehlen, Dich hier auszuprobieren. Mit der Erfahrung kommt auch die Fertigkeit.)

    Ingwerstarter

    (Bild)

    Zutaten:

    • 4 EL geriebene Ingwerwurzel mit Haut (unbehandelt)
    • 150 g Zucker
    • 500 ml Wasser

    Zubereitung:

    Fülle alle Zutaten in ein ausreichend großes Einmachglas und schließe den Schraubverschluss – allerdings nicht zu fest, damit die entstehenden Gase entweichen können. Das Glas sollte mehrmals täglich geschüttelt werden (dazu natürlich fest zuschrauben). Alle 3 Tage werden nun 1 bis 2 EL geriebene Ingwerwurzel, 10-15g Zucker und etwas Wasser dazu gegeben.
    Je nach Umgebungstemperatur sollte die Fermentation nach etwa einer Woche erkennbar in Gang gekommen sein – es sprudelt, blubbert und duftet entsprechend!
    Ist bis dahin noch gar nichts passiert, muss der Ansatz verworfen und neu begonnen werden. Möglicherweise haben andere Mikroorganismen die Oberhand gewonnen.
    Dieser Starter kann prinzipiell unbegrenzt lange am Leben gehalten werden, indem er nach der angegebenen Methode stetig weiter „gefüttert“ wird. Beim Umfüllen in ein sauberes Glas (was hin und wieder ratsam ist) wird der Inhalt durch ein Sieb gegossen und das alte Material entsorgt.
    So kann nach und nach auch von einem Ingwerstarter auf eine andere Geschmacksrichtung umgestellt werden.

    (Bild)

    Mit der Variation der bisher zusammengestellten Ingredienzen kannst Du es schon auf eine unheimliche Vielzahl unterschiedlichster Aromen bringen. Ist das nicht eine verlockende Vorstellung? Jeder weitere Ansatz bringt ein ganz neues, ungewöhnliches Geschmackserlebnis. Ein solches Angebot macht die bevorstehende Weihnachtsparty garantiert zum Volltreffer!

    Es können nun nach Belieben weitere Aromen hinzugefügt werden. Wie wäre ein Versuch mit den Triebspitzen von Tannen oder Fichten? Mit Kiefernnadeln oder Wacholderbeeren? Derlei Pflanzenteile sollten allerdings zuvor im Mörser zerdrückt werden, damit die sie umgebende Flüssigkeit den Geschmack und den wunderbaren Duft wirklich gut aufnehmen kann.
    Auch mit Pilzen oder Rinde kann gearbeitet werden. Birkenrinde ist hübsch anzusehen (das erfordert natürlich ein gelungenes Arrangement) und gibt einen interessanten, borkigen Geschmack.

    Ideen für weitere Zutaten:

    Wurzeln, wie von:

    • Löwenzahn
    • Wegwarte
    • Rohrkolben (steht in einigen Gebieten unter Naturschutz)
    • Süßholz
    Korb mit Waldpilzen 'Der Waldgeist in der Flasche' 700x467

    Pilze, wie:

    • Maronen (Vom Schaum befreien!)
    • Steinpilze
    • Krause Glucke, oder exotischer:
    • Shitake
    • Reishi

    Moose oder Flechten, allerdings sparsam, da sie Schwermetalle speichern.

    Harz (bzw. bei Laubbäumen zu Gummi verfestigter Baumsaft), wie von:

    • Kiefer
    • Fichte
    • Lärche
    • Kirschbaum, oder etwas gewöhnlicher… 🙂 :
    • Weihrauch

    Dazu muss man den Baum nicht verletzen – wenn Du durch den Wald läufst, wirst Du recht schnell Stämme finden, von denen Du vorsichtig getrocknetes Harz lösen kannst.

    Rinden/ Borken (natürlich wieder nicht von lebenden Bäumen):

    • Kiefer
    • Birke
    • Ahorn
    • Pappel
    • Espe
    • In geringer Menge Weide

    Zweige oder Holz von denselben Bäumen können ebenfalls dazugegeben werden.

    Vogelbeeren 'Der Waldgeist in der Flasche' 650x433

    Beeren oder andere Früchte, wie:

    • Vogelbeeren
    • Holunderbeeren
    • Preiselbeeren
    • Hagebutten

    Und so weiter…

    Wenn Du Dich etwas näher mit den Pflanzen, die Du ja in erster Linie wegen ihres Aromas auswählst, beschäftigst, dann wird Dir sicher schnell klar, dass Du hier nicht lediglich ein geschmackvolles Bier zusammenbraust, sondern durchaus einiges an therapeutischer Wirkung hineinbringst – denn im Prinzip birgt jede Deiner Zutaten auch medizinischen Nutzen.

    (Bild einfügen von folgendem Bier)

    Aber nun endlich zu einer konkreten Anleitung! Ich habe mich, wie einleitend angekündigt, beispielhaft für ein wild gemixtes Spätherbst-Waldbier entschieden.

    Zutaten:

    • 6g Beifuß
    • 20g Fichten-Triebspitzen
    • 5g gefallenes Birkenlaub
    • 10g getrocknete (oder frische), zerkleinerte Löwenzahnwurzel
    • 2 Zitronen, in Scheiben
    • 550g braunen Zucker
    • 1 Gallone (3,78l) Wasser (Es gibt wunderbare Gärballons (Link) für dieses Volumen)
    • 160ml des Starters

    Zubereitung:

    Gib Beifuß, Fichten-Triebspitzen, Löwenzahnwurzel, Zitronen, Zucker und Wasser in einen Topf und koche das Ganze 30 min lang. Fülle es anschließend in den Gärballon und lasse es abkühlen (!), bevor Du den Starter hinzu gibst.
    Egal, welches Gefäß Du nutzt, achte darauf, dass es möglichst hoch gefüllt ist, d.h. nicht mehr viel Luft enthält. Hefen sind Anaerobier, der Sauerstoff könnte den Ansatz zum Kippen bringen – was mit einem guten Starter aber recht unwahrscheinlich ist. Nach und nach verdrängt das entstehende CO2 den Sauerstoff ohnehin.
    Die Verwendung eines Gärballons ist vor allem deshalb empfehlenswert, weil durch den dazugehörenden Gäraufsatz Gas entweichen, aber keine Luft hineingelangen kann. Du musst nur dafür sorgen, dass der ‚Knick‘ des Aufsatzes Wasser enthält.
    So brauchst Du Dich nicht weiter um den Ansatz kümmern, sondern nur zu warten – in diesem Fall vom sichtbaren Beginn der Fermentation an 10 Tage lang.

    (Bild Abfüllen in Bügelverschlussflaschen + Amazon-Link dazu)

    Dann ist es soweit: Du kannst das Getränk in Flaschen mit Bügelverschluss abfüllen. Bei Verwendung von 0,5l-Flaschen kommt ein halber Teelöffel Zucker dazu – dann gärt das Bier noch ein wenig weiter und der Gehalt an Kohlensäure erhöht sich, weil das CO2 ja nun nicht mehr entweichen kann. Sicherheitshalber sollte gelegentlich der Druck abgelassen werden, damit die Flasche nicht zerspringt, aber mit der Zeit entwickelt man ein ganz gutes Gefühl dafür.
    Nach weiteren 3 bis 4 Wochen ist Dein wildes Bier fertig! (Bild)

    Im bereits erwähnten Buch (Link Amazon) von Pascal Baudar bekommst Du hervorragende Tipps zur Berechnung des entstehenden Alkoholgehalts, zum Umgang auch mit kultivierten Hefen und viele ausgefallene und schräge Rezepte mit zahlreichen wundervollen Bildern.
    Außerdem erfährst Du, wieviel Zucker Du für den Kohlensäuregehalt Deiner Wahl beifügen musst.
    Ich hole das Buch regelmäßig heraus und bin jedes Mal auf’s Neue hingerissen!
    Auch die Ideen zu Sodas und Weinen sind einfach klasse und zweifelsohne wird auch hierzu in absehbarer Zeit ein Artikel erscheinen! 🙂